Jüdische Organisationen und Synagogen werden in Deutschland vielfach von der Polizei geschützt. Was sagt dies über unsere Gesellschaft und ihre Probleme aus?
Haltung zeigen. Nicht schweigen. Gegen Hass und Diskriminierung
Anlässlich des diesjährigen Internationalen Tags des Gedenkens an die Opfer des Holocaust hat Volkswagen Heritage mit zwei Vertretern des europäischen Judentums gesprochen. Marian Turski (geboren 1926) ist ein Überlebender des KZ Auschwitz und Vorsitzender des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau. Dalia Grinfeld ist eine Vertreterin des modernen jüdischen Lebens in Deutschland. Sie lebt in Berlin und ist Assistant Director European Affairs der Anti-Defamation League (ADL). Das Gespräch führte Dieter Landenberger.
Turski: Das ist für mich schwer zu beurteilen, da ich in Polen lebe. Hier leiden wir auch unter antisemitischer Stimmung, aber unsere Synagogen werden nicht bewacht. Warum das in Deutschland notwendig ist, kann ich mir nicht erklären. Denn wann immer ich Deutsche oder deutsche Politiker kennenlerne, erlebe ich Personen mit Werten und Haltungen, die ich akzeptieren kann. Andererseits sehe ich auch einen Wandel: Getragen von der jungen Generation, die noch die Möglichkeit hatte, direkt mit ihren Eltern und Großeltern über das Erlebte zu sprechen, ging in den 60er Jahren eine Bewegung durch Deutschland, die für Versöhnung warb. Ausdruck dessen war unvergessen der Kniefall von Willy Brandt. Zur Zeit gibt es in Deutschland keine Persönlichkeiten wie Willy Brandt mehr, die diese innere Überzeugung leben, wie Willy Brandt das getan hat – die Deutsche Gesellschaft hat sich verändert. Vielleicht wird es wieder eine Bewegung geben, die an diese Überzeugung anknüpft. Vielleicht müssen wir einen anderen Weg finden, mit der jungen Generation zu sprechen.
Grinfeld: Noch immer gibt es Antisemitismus in Deutschland. Dabei geht es um antisemitische Hetze bis hin zu antisemitischer Gewalt. In den letzten Jahren haben wir eine Zunahme dieser Gewalt beobachten können. Der Anschlag auf 52 betende Menschen in der Synagoge von Halle am höchsten jüdischen Feiertag Yom Kippur ist nur eines der tragischen Beispiele. Jüdisches Leben wird häufig nicht als Teil der Deutschen Gesellschaft wahrgenommen, es wird mehr aus der Beobachterperspektive betrachtet. Dies entsteht unter anderem durch Unwissenheit über die jüdische Kultur, Tradition und Geschichte. Viele Menschen betrachten jüdisches Leben nur mit Blick auf den Holocaust, den Konflikt im Mittleren Osten und Antisemitismus. Ein Verständnis für echtes jüdisches Leben in Deutschland und die damit verbundenen Lebensrealitäten existiert jedoch kaum. Wir erleben zudem weiterhin einen strukturellen Antisemitismus. Die von der Anti-Defamation League weltweit durchgeführte Umfrage „Global 100“ beschäftigt sich mit antisemitischen Stereotypen.
Turski: Müssen Moscheen in Deutschland ähnlich geschützt werden wie Synagogen?
Grinfeld: Ich persönlich weiß nur von wenigen Moscheen, welche diese Art von Schutz aktuell haben. Ob sie diesen benötigen muss man Menschen dieser Gemeinschaft fragen.. Anders sieht es jedoch bei Flüchtlingsheimen aus, die zu großen Teilen von muslimischen Menschen bewohnt werden. Der Grund für diese Gewalt hat die gleiche Ursache: Viele Menschen denken, die Geflüchteten gehören nicht hierher.
Wenn wir auf die Geschichte des letzten Jahrhunderts zurückblicken, dann könnte man heute gelegentlich glauben, dass sich bestimmt Umstände wiederholen. Glauben Sie, dass die Menschen aus Geschichte nichts lernen?
Turski: Manchmal lernen Menschen aus der Geschichte, manchmal tun sie es nicht. Wenn wir auf die Zeit der Weimarer Republik schauen, dann kann ich verstehen warum eine populistische Bewegung erfolgreich sein konnte. Deutschland hat damals unter den Folgen des Ersten Weltkriegs sehr gelitten. Dies ist heute aber nicht der Fall, Deutschland ist erfolgreich. Aber können wir sicher sein, dass die heute heranwachsende Generation wirklich versteht, wie es überhaupt zu so einem Regime kommen konnte? Vermitteln wir ihnen ausreichend, welche Schritte, welche Etappen dahin geführt haben?
Grinfeld: Das Thema Holocaust wird in den deutschen Schulen generell ausführlich vermittelt. Das Problem ist, dass zu wenige dieser Schülerinnen und Schüler Erkenntnisse daraus mitnehmen, die sie auf ihr eigenes Leben übertragen. Was diese für die eigene Freiheit, die Demokratie, für jede Minderheit, oder ihren Freund oder Nachbarn bedeuten. Sie betrachten das Dritte Reich als Teil der Deutschen Geschichte, das mit ihrem Leben wenig direkt zu tun hat. Gerade diese Übertragung wäre aber wichtig, um das Verständnis für Menschen weiterer Kulturen oder Religionen zu erleichtern. Laut der letztjährigen „Global 100“-Studie, stimmten 42 Prozent der Deutschen der Aussage zu, dass Juden zu viel über den Holocaust reden. Es fehlt das Verständnis dafür, dass der Holocaust das Leben sehr vieler Jüdinnen und Juden und ihrer Familien ganz massiv verändert hat und bis heute höchste Relevanz hat. Auch das der jungen Generation, wenn diese sich die Geschichte der eigenen Familie ansieht. Dies gilt auch für Menschen in Deutschland, die keine deutschen Wurzeln haben. Auch wenn man keine deutschen Vorfahren hat, gibt es viele Lehren aus dem Holocaust für das eigene Leben.
Turski: Wir sprechen vom Antisemitismus und vom Holocaust als ein jüdisches Problem. Der Holocaust wird immer als Tragödie für die Juden angesehen – es war aber eine Tragödie für Europa. Die Verbrechen der Nationalsozialisten machen deutlich, was Diktaturen anrichten können – sie missachten Menschenrechte. Es reicht heute nicht mit jungen Menschen durch ehemalige Konzentrationslager, wie Auschwitz, zu gehen. Man muss mit den jungen Menschen reden. Sie müssen verstehen, was damals in Deutschland passiert ist – wie so etwas geschehen konnte – wie es zum Holocaust kommen konnte.
Nein, es ist ein europäisches Problem. Wann werden die Europäer erkennen, wie gefährlich Diskriminierung für sie selber ist? Nicht nur für Juden, Muslims oder andere Minderheiten. Diskriminierung ist eine Gefahr, es ist der Weg Diktaturen den Weg zu bereiten.
Antisemitismus findet heute vielfach online statt. Welche Bedeutung hat das Internet in diesem Zusammenhang?
Grinfeld: Erschreckend ist für mich zum Beispiel die Gaming-Szene, der auch der Attentäter von Halle angehörte. Er war Teil einer Online-Community von Rechtsextremen, die alle kein Problem mit Gewalt haben. Gewalt gegen Jüdinnen und Juden, Frauen*, LGBTIQ*-Personen oder BIPoC Menschen. Diese Online-Extremisten sind weltweit vernetzt und bestärken sich gegenseitig, tauschen sogar Informationen über Anschlagspläne oder den Bau von Bomben aus. Ebenso können wir im Internet das Aufkommen von Verschwörungsmythen beobachten. QAnon ist ein gutes Beispiel, da gibt es Online-Kanäle mit 150.000 Followern. QAnon ist voller Hass gegen Juden , Muslime, Immigranten und andere Minderheiten, eben alles vermeintlich Fremde. Wenn es so einfach ist, Hass zu sähen, dann können und müssen wir dagegenhalten. Gegen diesen Hass müssen wir aktiv kämpfen.
Herr Turski, in einem offenen Brief haben Sie im vergangenen Jahr Mark Zuckerberg vor zu viel Hass in dessen Netzwerkgewarnt. Was denken Sie über die Rolle der Sozialen Medien?
Turski: Mit dem Internet ist es vielleicht ähnlich wie mit der Erfindung des Buchdrucks durch Gutenberg. Die Menschen konnten sich damals nicht vorstellen, wie wirkungsvoll diese Erfindung sein würde, wie sie die Kultur und Mentalität und das Lernen beeinflussen würde. Ich selber nutze das Internet, weil es mir hilft. Aber ich bin kein Teil davon – meine Kinder schon. Um ehrlich zu sein fühle ich mich ein bisschen zu alt für Soziale Medien und möchte keine Zeit bei Instagram, Facebook oder TikTok verschwenden. Aber Freunde haben mich auf das Problem hingewiesen, ebenso meine Tochter und meine Enkelkinder. In meinem Brief habe ich daran appelliert, der Demokratie zuliebe nicht zuzulassen, dass Holocaust-Leugner auf Facebook in Erscheinung treten.
Grinfeld: Große Technologie-Unternehmen haben eine besondere Verantwortung, weil ihre Plattformen Teil unseres täglichen Lebens geworden sind. Ich denke es ist wichtig, dass diese Firmen diese Verantwortung verstehen. Auf der anderen Seite sehe ich auch die Regierungen in der Pflicht entsprechende Regulierungen einzuführen. Mitte letzten Jahres hat die ADL die Kampagne „Stop Hate for Profit” gestartet und zusammen mit anderen NGOs dazu aufgerufen, keine Werbung bei Facebook zu schalten, solange man dort nicht aktiv gegen Hass, Fanatismus, Rassismus, Antisemitismus und Desinformation vorgeht. Ein Ergebnis ist, dass die Leugnung des Holocaust und Rassismus heute bei Facebook verboten ist. Aber es geht nur langsam voran. Dabei müssen Facebook und die anderen Plattformen schnellstmöglich ihre Verantwortung anerkennen und Dinge verändern. Gleichzeitig hat sich hier auch gezeigt, dass Unternehmen und Organisationen mit ihrer Haltung und ihrem Auftreten gegen Hass durchaus etwas bewirkt haben.
Volkswagen ist ein Unternehmen mit einer besonderen Geschichte, die in der Anfangszeit eng mit dem Nationalsozialismus verknüpft war. Hat Volkswagen vor diesem Hintergrund eine besondere Verantwortung?
Grinfeld: Volkswagen erkennt seine Geschichte an, was sicherlich ein langer und schmerzhafter Weg war. Es gibt in Deutschland viele andere Unternehmen welche diesen Weg noch nicht gegangen sind. Hier wünsche ich mir, dass sie den Weg der Verantwortlichkeit begehen. Aber auch bei Volkswagen sehe ich noch immer Herausforderungen. Das Unternehmen ist eine globale Marke und mit Bedeutung kommt auch Verantwortung. Ich denke VW muss sich ständig selber hinterfragen. Was sind unsere Werte? Wie sehen wir uns als Global Player, der viel Energie in die Aufarbeitung der Vergangenheit gesteckt hat? Wie geht dies einher mit Geschäftsbeziehungen in Regionen, wo es an Demokratie und Menschenrechten fehlt? Die Akteure bei Volkswagen müssen sich immer bewusst sein, dass sie, egal was sie in der Öffentlichkeit sagen oder wie sie sich verhalten, eine Botschaft senden mit der große Verantwortung verbunden ist.
Herr Turski, über das Auschwitz-Komitee kennen sie seit vielen Jahren die Gedenkstättenarbeit von Volkswagen. Was sind ihre Wünsche für die Zukunft dieser Zusammenarbeit?
Turski: Was Volkswagen im Bereich Erinnerungskultur tut, beobachte ich sehr genau. Das was dort gemacht wird gefällt mir. Ich wünsche mir, dass Volkswagen weiterhin junge Menschen für Mitmenschlichkeit sensibilisiert und deren Engagement in diesem Bereich fördert. Die jungen Leute von Volkswagen, die ich in Auschwitz kennengelernt habe, sind so engagiert an ihre Arbeit herangegangen. Das macht mich glücklich. Ich wünsche mir, dass diese jungen Menschen nicht schweigen. Sie sind die Multiplikatoren für die Arbeit, die sie leisten.
Eines möchte ich jedoch gerne empfehlen: Bitte führen sie einmal eine soziologische Studie in Ihrem Unternehmen durch, ob diese engagierten Auszubildenden nur eine Minderheit bleiben, oder ob sie ihre Erfahrungen mitteilen können, ob sie gehört werden und ihre wichtige Botschaft an ihre Kollegen weitergeben können. Das wäre hoch interessant für mich. Wenn die Antwort „Ja“ lautet, wäre ich sehr glücklich.
Info Dalia Grinfeld
Dalia Grinfeld wurde 1994 in Stuttgart geboren und ist in Berlin aufgewachsen, wo sie jüdische Schulen und das jüdische Jugendzentrum besuchte. Ihre Familiengeschichte ist eine typische jüdische Immigrationsgeschichte mit Stationen in der ehemaligen Sowjetunion, Argentinien, Israel, New York und immer wieder Berlin. Schon früh während ihres Studiums der Politikwissenschaft und Jüdischen Studien in Heidelberg, Buenos Aires und Herzliya begann sie Ihr Engagement für jüdisches Leben und Kultur. 2017 wurde Grinfeld zur ersten Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD) gewählt, dessen Gründungsmitglied sie auch ist.
Heute lebt sie wieder in Berlin und ist die stellvertretende Direktorin für Europäische Angelegenheiten bei der Anti-Defamation League (ADL). Als Vertreterin des modernen jüdischen Lebens in Europa hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, dieses sichtbar zu machen. Darüber hinaus setzt sie sich aktiv in diversen NGO’s für die Themen Frauen Empowerment, LGBTIQ*-Rechte und innovative Demokratie ein.
Volkswagen arbeitet im Rahmen der Erinnerungskultur der Marke seit 2018 mit der ADL zusammen.
Info Marian Turski
Marian Turski, 1926 geboren, ist polnischer Journalist jüdischer Abstammung. Im August 1944 wurde er vom Ghetto Litzmannstadt in das KZ Auschwitz-Birkenau deportiert, von wo er im Frühling 1945 auf den Todesmarsch nach Loslau geschickt wurde, den er überlebte. Nach dem Zweiten Weltkrieg ließ er sich in Warschau nieder. Seit 1958 ist er Leiter der historischen Redaktion des Nachrichtenmagazins „Polityka“. Trotz des hohen Alters ist er weiterhin als Journalist tätig.
Im Zuge seiner unermüdlichen Erinnerungsarbeit nimmt er einige wichtige Funktionen wahr: Er ist Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees, Vorsitzender des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau, Mitglied des Hauptvorstands des Vereins der Jüdischen Kombattanten und Opfer des Zweiten Weltkrieges sowie Mitglied des Internationalen Auschwitz-Rates und des Rates des Hauses der Wannseekonferenz. Seit 26. März 2009 ist er Vorsitzender des Rates des Warschauer Museums der Geschichte der polnischen Juden.
Für Volkswagen ist er ein Gesprächspartner von unschätzbarem Wert: in Auschwitz hat er gemeinsam mit Christoph Heubner mit Auszubildenden des Konzerns, die dort an den Programmen von Volkswagen und des IAK teilgenommen haben, gesprochen. Darüber hinaus hat er bereits bei einer Betriebsversammlung in Wolfsburg eine Rede gehalten.
Am 27. Januar 2020 hielt er anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung von KZ Auschwitz eine viel beachtete Rede unter dem Motto „Auschwitz ist nicht vom Himmel gefallen“. Eindringlich erinnerte er daran, dass die Schritte, die nach Auschwitz führten, überall und jederzeit wieder erfolgen können. Deshalb rief er dazu auf, dem „Elften Gebot“ zu folgen, das lautet: „Seid nicht gleichgültig“.
Das geführte Interview folgt seinem Apell.