Der ID. R Pikes Peak ist der Liebling der Fans in Colorado
Auf Anhieb Legende
Colorado Springs/USA, Sonntag 24. Juni, 02:30 Uhr am Morgen. Eine Karawane aus Autos und Motorrädern bahnt sich den Weg zum rund 20 Kilometer entfernten Pikes Peak. Der berühmt-berüchtigte Berg hat eine Gipfelhöhe von 4.302 Metern und ist damit einer von insgesamt 53 Viertausendern in Colorado – und doch ein einzigartiger. Majestätisch thront er vor den Toren von Colorado Springs, einer verträumten Stadt am östlichen Rand der Rocky Mountains, über der jetzt noch die Schwere der Nacht liegt. Der Großteil der 465.000 Einwohner schläft – aber eben nur der Großteil. Tausende sind schon auf den Beinen. Wenn der Pikes Peak International Hill Climb ruft, ist für sie an Schlaf nicht zu denken.
Es ist das berühmteste Bergrennen der Welt. 19,99 Kilometer lang. 156 Kurven. Insgesamt 1.440 Höhenmeter müssen die Teilnehmer mit ihren Fahrzeugen erklimmen, bevor sie auf dem Gipfel abgewunken werden. Volkswagen feiert in diesem Jahr seine Rückkehr. Mit dem ID. R Pikes Peak, dem ersten rein elektrisch angetriebenen Rennwagen der Marke, soll eine Rechnung beglichen werden, die 31 Jahre alt ist. Beim letzten Auftritt im Jahr 1987 war Jochi Kleint mit dem Bi-Turbo Golf auf dem Weg zum Sieg. Rund 400 Meter vor dem Ziel musste er mit einem Aufhängungsschaden aufgeben und tatenlos zusehen, wie Walter Röhrl im legendären Audi Sport quattro S1 am Pikes Peak den Sieg feierte.
Ein Wahnsinnsritt
Es sind diese Geschichten, die den Pikes Peak legendär gemacht haben. Geschichten von jubelnden Helden und geschlagenen Hoffnungsträgern. Sieger, das sagt hier im US-Bundesstaat Colorado jeder, sind alle, die den Wahnsinnsritt bewältigen. Das spürt man auf dem Weg in den Startbereich bereits in langsamer Fahrt von nicht einmal 40 km/h. Es liegt eine eigenartige Magie in der Luft, die mit Worten kaum zu beschreiben ist. Die letzten Holzhäuser verschwinden im Rückspiegel und die Fahrt führt durch die Nacht in den dichten Wald.
Erster Stopp ist die große Mautstelle. Hier beginnt für Touristen an 364 Tagen im Jahr der eigentliche Aufstieg zum Gipfel. Nur an einem einzigen Tag, beim Pikes Peak International Hill Climb, ist der Pikes Peak Highway tagsüber den furchtlosen Teilnehmern und ihren teilweise skurril anmutenden Rennwagen vorbehalten. Dann heißt es, „Der frühe Vogel fängt den Wurm“. Für die Offiziellen und die Teams öffnet der Ranger das Tor bereits um 2 Uhr morgens. Eine Stunde später dürfen die bis zu 10.000 Zuschauer passieren, um sich an der Strecke die besten Plätze zu suchen.
03:30 Uhr. Im Startbereich herrscht bereits geschäftiges Treiben. Es liegt der Duft von gebratenem Fleisch in der Luft. Burritos können die Amerikaner offenbar zu jeder Tages- und Nachtzeit essen – und nicht nur Amerikaner, wie die Warteschlange vermuten lässt. Grelle Scheinwerfer spenden Licht. Mit einer Mischung aus Hektik und Souveränität legen die Teams ein letztes Mal Hand an. Alles soll passen. Nichts dem Zufall überlassen werden. 22 Motorräder und 55 Autos stehen in diesem Jahr auf der Starterliste. Es wird ein langer Tag. Für die Fahrer. Für die Mechaniker. Und für die enthusiastischen Fans, die jeden einzelnen Starter frenetisch bejubeln.
Der ID. R Pikes Peak ist der Star
Das mit Abstand größte Interesse im Fahrerlager ruft der eindrucksvolle Aufbau von Volkswagen hervor. Unzählige Schaulustige tummeln sich vor dem beheizten Zelt, in dem der ID. R Pikes Peak die Nacht verbracht hat und jetzt vom rund 30-köpfigen Team auf seine Rennpremiere vorbereitet wird. Zwei Trucks sind zum Ersatzteillager und Ingenieursbüro umfunktioniert, im Hintergrund thront ein Lkw mit einem 20-Fuß-Container samt umweltschonendem Generator und Kühlung für den Elektro-Prototyp und seine Lithium-Ionen-Batterien. Bislang läuft bei der Rückkehr an den Pikes Peak alles nach Plan. In allen Trainings und auch im Qualifying war der 500 kW (680 PS) starke ID. R Pikes Peak eine Klasse für sich. Letztendlich zählt aber nur das Rennen.
Bis zum Rekord ist es noch ein weiter Weg. Knapp 20 Kilometer auf dem Papier. Eine Ewigkeit in der Realität. Die Anspannung in den Gesichtern ist sichtbar. Viele Wochen harter Arbeit liegen hinter dem Team. François-Xavier Demaison, Technischer Direktor bei Volkswagen Motorsport, blickt skeptisch drein. Das tut der Franzose oft, doch hier am Pikes Peak tritt Demaison noch fokussierter, noch gewissenhafter auf. Was er und sein Team in den vergangenen Monaten auf die Beine gestellt haben, ist schon jetzt herausragend. Im Herbst 2017 begann alles mit einem weißen Blatt Papier. Nun steht dort ein beeindruckender Rennwagen, der mehr ist – sportlicher Vorbote der ID. Familie, den ersten rein elektrischen Fahrzeugen von Volkswagen, die ab 2020 auf den Markt kommen.
Romain Dumas’ Kindheitstraum
04:30 Uhr. Einer will von dem vorherrschenden Druck nichts wissen, zumindest lässt er ihn sich nicht anmerken: Romain Dumas, Fahrer des ID. R Pikes Peak. Der Franzose kommt gerade zurück von einem Besuch bei seinem Team RD Limited, das mit zwei Porsche und einem Gillet Vertigo am Start ist. „Alles unter Kontrolle“, sagt Dumas lächelnd. „Ich habe gute Jungs im Team, da kann ich mich voll und ganz auf meine Aufgaben bei Volkswagen konzentrieren.“ Und fügt mit einem Grinsen hinzu: „Eigentlich war ich auch nur dort, um einen Espresso zu holen, den gibt es bei uns nicht.“ Dumas wirkt gelöst. Ist es die Routine? Dreimal hat er am Pikes Peak bereits triumphiert. Er kennt jede der 156 Kurven. Er kennt jede Bodenwelle. Und hat den Respekt vor der Strecke dennoch nie verloren.
Bereits mit sechs Jahren war Dumas klar, dass er eines Tages beim Pikes Peak International Hill Climb an den Start gehen möchte. 2012, im Alter von 34 Jahren, war es so weit. Seine Eltern Maurice und Geneviève unterstützten die Motorsportkarriere ihres Sohnes von Beginn an. In diesem Jahr lassen sie es nicht nehmen, in den USA vorbeizuschauen und live vor Ort die Daumen zu drücken. Dafür haben sein Vater, bis heute selbst Rallyefahrer, und seine Mutter, die hin und wieder als Co-Pilotin ihres Mannes mitfährt, sogar den Besuch beim 24-Stunden-Rennen von Le Mans abgesagt, bei dem Romain eine Woche zuvor am Start war.
Wiedersehen in Colorado
05.35 Uhr. Während die Sonne langsam aufgeht, verheißt der Blick nach oben nichts Gutes. Eine dichte Wolkendecke hängt am Himmel. Regen? Bislang ist es trocken. Bei fünf Grad Außentemperatur ist Bewegung das beste Mittel gegen die Kälte. Auf der anderen Seite des Fahrerlagers hat ein Pilot sein Lager aufgebaut, der in gewisser Weise seit der Pikes-Peak-Stunde null mit Dumas verbunden ist: Sead Causevic. Es ist der sechste Start für den Trainer der kanadischen Skicross-Nationalmannschaft. Zum vierten Mal geht er mit einem Volkswagen Jetta GLI aus dem Jahr 2010 ins Rennen.
„Wie Romain Dumas, bin auch ich 2012 zum ersten Mal am Pikes Peak gefahren“, sagt der ehemalige Ski-Alpin-Rennläufer. „Gleich im ersten Jahr lagen unsere Boxen direkt nebeneinander. Romain kam mit einem Porsche 911 GT3R zum Pikes Peak und hatte offenbar noch nicht an alles gedacht. Er brauchte einen Reifendruckmesser.“ Ein besonderer Moment. Dumas hatte eine Woche zuvor die 24 Stunden von Le Mans gewonnen. „Ein Star kommt persönlich vorbei und fragt nach einem Reifendruckmesser. Das werde ich nie vergessen.“
Mit einer gehörigen Portion Stolz blickt Causevic auch auf den Jetta GLI, der eigens für den Start am Pikes Peak aufgebaut wurde. Warum ein Jetta? Eine richtige Antwort hat der Adrenalinjunkie dafür nicht. „Für mich ist er das perfekte Auto für Bergrennen“, sagt er nach kurzer Bedenkzeit. „Unser Mk 5 ist wie ein New-School-Mk2. Er nimmt jede Herausforderung gerne an.“ Der Allradler mit 2,0 Liter FSI Turbo-Aggregat leistet rund 330 kW (450 PS) und sei eine „echte Maschine, lässt sich aber extrem leicht fahren“. Nach einer guten Trainingswoche freut sich Causevic auf das bevorstehende Rennen, warnt aber auch: „Am Pikes Peak kann man noch so gut sortiert sein, der Berg findet immer wieder neue Herausforderungen.“
Respektvoller Angriff mit Berg-Käfer
06:50 Uhr. Wahrhafte Perlen des Motorsports sind im Fahrerlager zu finden. Hier ein Audi S1 E2 von 1984, dort ein McLaren MP4-12C oder auch ein VW-Porsche 914 aus dem Jahr 1970. Und ein wenig unscheinbar in einer Ecke erstrahlt plötzlich ein Blickfang ganz anderer Art: ein Volkswagen Käfer. Der vermeintliche Oldtimer von 1972 entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als Fun-Cup-Beetle mit Kunststoff-Silhouette aus den späten 1990er-Jahren. Das schmälert den Wow-Effekt aber nur bedingt. Der Käfer mit 2,0-TDI-Motor leistet 175 kW (240 PS) und gehört dem Unternehmer Greg Blachon. Fahrer ist Manfred Stohl, ehemaliger Rallye- und Rallycrossfahrer aus Österreich.
Blachon fragte vor einigen Monaten bei seinem Geschäftspartner Stohl an, ob dieser nicht Lust habe seinen Käfer am Pikes Peak zu fahren. Zunächst erntete er Skepsis. Der Pikes Peak reizte Stohl zwar schon lange, aber bei der Premiere mit einem Käfer an den Start gehen? Blachon solle erst einmal Fotos von dem Auto schicken. Gesagt. Getan. Als die Fotos eintrafen, „ist die Skepsis noch gewachsen“, plaudert Stohl aus dem Nähkästchen und muss laut lachen. „Nach ein, zwei Nächten, in denen ich mir Zeit zum Nachdenken nahm, habe ich zugesagt. Was habe ich schon zu verlieren“, sagt Stohl und betont: „Dieser Berg ist etwas ganz Besonderes. Auch wenn mir am Anfang etwas mulmig war, weiß ich, dass ich diese Fahrt nie vergessen werde.“
Angesprochen auf die Strecke, legt Stohl die Stirn in Falten. „Schwierig, sehr schwierig“, gibt sich der 46-Jährige plötzlich wortkarg. 100 Wertungsläufe in der Rallye-Weltmeisterschaft WRC stehen in seiner Vita. Aber der Pikes Peak ist besonders. Als Rallyefahrer habe er Vorteile gegenüber den vielen Hobbyfahrern, die sich der Herausforderung stellen. Eben von diesen Hobbyfahrern gibt es viele im Starterfeld. Doch diese Mischung aus Alt und Jung, erfahrenen Piloten und Rookies, professionell aufgebauten und in der heimischen Garage zusammengezimmerten Autos, macht den Reiz am Pikes Peak aus. Und die Unwägbarkeiten. Mittlerweile hängt dichter Nebel über dem zweiten Sektor und im Startbereich fallen vereinzelte Regentropfen. Die Rekordjagd ist in Gefahr.
07:00 Uhr. Nichts geht mehr. Der Verkehr zum Gipfel ist gestoppt. Die Strecke muss bis zum Start in 60 Minuten geräumt sein. Im Fahrerlager wird es indes immer enger. Fahrer, Fans und Filmteams bilden eine große, stimmungsvolle Pikes-Peak-Gemeinde. Und dann wird es „amerikanisch“. Lokalmatadorin Kaylee Smith singt voller Inbrunst die Nationalhymne. Zu den Klängen von „The Star-Spangled Banner“ legen die Einheimischen die rechte Hand aufs Herz. Einzig die knarzenden Lautsprecher stören dieses Ereignis. Derweil machen sich im Hintergrund die ersten Motorradfahrer auf in Richtung Vorstart, der am Pikes Peak martialisch „Hot Grid“ genannt wird. Zutritt nur mit Spezialpass.
Showdown in der Morgensonne
08:00 Uhr. Der Start! Pünktlich zum Rennbeginn reißt der Himmel auf und die Sonne bahnt sich ihren Weg durch die Baumwipfel. Dennoch geht immer wieder ein banger Blick gen Himmel. Wird das Wetter halten? Für die Mittagszeit ist am Gipfel Schneefall vorhergesagt. Es wäre nicht das erste Mal, dass der Pikes Peak International Hill Climb vom Wetter beeinflusst wird. Unbeirrt davon steht Rafael Paschoalin mit seiner Yamaha MT-09 im Hot Grid und wartet darauf, auf die Strecke gelassen zu werden. Drei. Zwei. Eins. Loooos! Mit einem lauten Röhren und durchdrehendem Hinterreifen eröffnet der Brasilianer den 96. Pikes Peak International Hill Climb. Es folgen 20 weitere Motorräder, dann sind die Autos dran, angeführt vom Besten aus dem Qualifying, Romain Dumas im Volkswagen ID. R Pikes Peak.
10:07 Uhr. Der ID. R Pikes Peak rollt zum Showdown heran. Ein ohrenbetäubendes Piepsen lässt die Menge zurücktreten. Das Auto muss Lärm machen, so schreibt es das Reglement vor. Minimum 120 Dezibel. Wie ein startender Düsenjet. Zum Schutz der Tiere im Gebirge. Dumas bekommt davon im Cockpit nichts mit. Der Franzose ist mittlerweile voll im Konzentrationstunnel und rast wenige Sekunden später davon. Nun kann das Team nichts mehr tun. Dumas ist auf sich allein gestellt. Ein einziger Versuch. Den Elektrorekord im Visier. Als der ID. R Pikes Peak hinter der ersten Linkskurve verschwindet, richten im sich Startbereich die Augen auf die Bildschirme.
Im schnellen ersten Abschnitt ist Dumas traumwandlerisch sicher unterwegs. Der ID. R Pikes Peak scheint auf Schienen zu fahren. Nach rund sechs Kilometern nehmen die langsameren Kurven zu. Heitman’s Hill. Ski Area. Tin Barn. Kurvennamen, die Musik sind in den Ohren von Pikes-Peak-Fans und Dumas alles abverlangen. Dank perfekter Aerodynamik und der leistungsstarken Elektromotoren beschleunigt der ID. R Pikes Peak unnachahmlich aus den Kurven. Gespannt sind die Blicke auf die Fernsehmonitore gerichtet. Mit einem Auge immer die Zeit im Visier.
Schnell, sehr schnell, erreicht Dumas die Baumgrenze. Im letzten Abschnitt werden die Passagen wieder flüssiger, aber die Kurven bleiben tückisch. Die Sekunden verrinnen … Wird es Dumas schaffen? Der ID. R Pikes Peak taucht auf dem letzten Anstieg auf. Eine langgezogene Linkskurve, dann die schwarz-weiß karierte Flagge. Hoffen … Bangen … 7:57,148 Minuten! Allzeit-Rekord! 16,730 Sekunden schneller als die alte Bestmarke von Sébastien Loeb aus dem Jahr 2013. Dumas bezwingt im rein elektrisch angetriebenen ID. R Pikes Peak die Konkurrenz, die mit konventioneller Antriebstechnik unterwegs ist – mit der schnellsten Zeit in der über 100-jährigen Geschichte des Bergrennens. Ein starkes Zeichen für die Elektromobilität.
Das Ergebnis perfekter Teamarbeit
„Wahnsinn, was soll ich sagen“, gibt sich Dumas wortkarg, nachdem er auf dem Gipfel ausgerollt und aus dem ID. R Pikes Peak geklettert ist. „Das Rennen war nicht einfach, im Mittelteil hat Nebel die Strecke sehr rutschig gemacht, aber das Auto war perfekt. Unter acht Minuten zu bleiben versuche ich schon seit Jahren. Jetzt hat es endlich geklappt. Vielen Dank auch an das Team von Volkswagen, sie haben einen unglaublichen Job gemacht.“
Sven Smeets gibt das Lob postwendend zurück: „Was für eine unglaubliche Leistung von Romain“, jubelt der Motorsport-Direktor von Volkswagen nach dem Triumph. „Für mich haben sich diese 7:57 Minuten angefühlt wie eine Stunde. Plötzlich war Romain vom Zeitenmonitor verschwunden und ich habe befürchtet, dass er ausgefallen ist, aber sein Name tauchte wenige Sekunden später ganz oben auf dem Tableau auf. Da wussten wir, dass es gereicht hat.“
Bei einem Mann fällt im Moment des Erfolges die ganze Anspannung der vergangenen Monate ab: „Ich freue mich unglaublich für das Team“, sagt der Technische Direktor von Volkswagen Motorsport, François-Xavier Demaison, und strahlt über das ganze Gesicht. „Wir haben gezeigt, dass ein Elektrorennwagen gegen Konkurrenten mit Verbrennungsmotor gewinnen kann. Und nicht zuletzt ist der ID. R Pikes Peak der Beweis, dass Volkswagen sehr gute Elektroautos bauen kann und wird.“